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                                                                                                                           © Franka Frieß

 

  

 

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Der König der Dämmerung

 

 

Der König der Dämmerung kommt aus dem Dunkel der Wacholderhügel, die sich um unser Städtchen gruppieren. Vom Grabfeld aus steigt er die Berge hinab in unseren kleinen Ort. Er besucht die, die im Dämmerlicht sind, das ist das Zwielicht zwischen hüben und drüben. Dann nämlich sind die Menschen bereit, für ihn, den Dämmerkönig und seine Welt. Einem jeden von ihnen legt er die knochige Hand auf die Stirn und murmelt Worte. Uralte Worte sind es, bereits aber- und abertausend Male gesprochen. Und dann trägt er ein Kinderlied vor. Er raunt es mehr, als dass er es singt, mit dunkler Stimme.

Er kennt alle unsere Weisen aus der Kindheit.

Der Dämmerkönig holt jeden, dem die letzte Stunde geschlagen hat, er kennt sie genau. Und wenn der Sterbende das wohl vertraute Lied seiner Kindheit summt, jetzt zusammen mit dem schwarz gekleideten Mann, einst gesungen mit der Mutter, der Großmutter, dem Vater, den Geschwistern, dann ist sie da, die Zeit, in der das Leben von ihm scheidet. Und dann fasst der Todeskönig den Menschen bei der Hand.

 

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Neulich besuchte er eine alte Bekannte. Ihr Lebtag war sie traurig, denn sie hatte das Kostbarste, ihr Kind, verloren. Jahrzehntelang hatte sie geklagt über den Verlust, doch niemand konnte ihre Trauer stillen. „Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen.“ Wie oft hatte sie mit ihrem Söhnchen gesungen, immer wieder, das Lied vom kleinen Buben? Neulich nun erinnerte sie sich der alten Ballade: „Kleiner Bub, kleiner Bub, sag mir, was ist erstens. Einer ist, der alles regiert, alles regiert, im Himmel und auf Erden!“ Und dann kam er, der König, schön, dunkel und gewaltig, gehüllt in seinen schwarzen Mantel. Er schritt von den Grabfeldhügeln mit den Wacholderbüschen herab und übernahm das Regiment. Er  fasste die alte Frau an der Hand. Dabei raunte er die ewigen Worte: „Das Dämmerlicht ist hier, so komm du jetzt mit mir!“ Mit dankbarer Freude ergriff die Alte seine Hand, hatte sie doch auf ihren Todeskönig gewartet. „Endlich, mein Freund, bist du da! Jetzt kann ich meinen Sohn wiedersehen und meinen Mann und alle, die mir waren vertraut!“ Fort war sie, unsere Bekannte, mit einem Lächeln im Antlitz.

 

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Gestern dann holte der Dämmerkönig einen Säugling aus dem Schoß seiner Mutter. Eingehüllt in das Totentuch kam er majestätischen Schrittes die Wacholderhügel herab in unsere Stadt. Dann nahm er über unseren kleinen Fluss, die Lauer, den Steg und eilte zum Spital, wo die junge Mutter, selbst noch ein Kind, mit ihrem sterbenden Fötus lag. Der Dämmerkönig raunte immer lauter je näher er kam: „Der Dämmerkönig, er, er holt dein Kind bald sehr!“

Diesmal fiel es ihm schwer, das Menschlein zu holen, denn es war so klein und hatte noch nicht das Licht der Welt erblickt. Niemandem hatte es ein Leid getan! Als das junge Mädchen sein Sternenkind im Arm hielt, summte es das Lied, das die Mutter vor knapp sechzehn Jahren gesungen hatte: „Es führt über den Main, eine Brücke von Stein, wer darüber will geh`n muss im Tanze sich dreh`n, falalalala falalala.“

Ein Fuhrmann kam daher, seine Kutsche mit drei Rössern bespannt. Vor dem Hospital lud er den Dämmerkönig in den Wagen. In dessen Armen lag, falalalala falalala, das Sternenkindchen. Jetzt lächelte es, denn bald sollte es ihm gut gehen beim Höchsten, der ihm Mutter und Vater sein würde. Der Fuhrmann peitschte auf die Pferde ein, in wilder Jagd und mit lautem Grölen fuhren sie davon.

 

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Heute noch wird der Dämmerkönig einem Mann im Tal draußen begegnen, du wirst es hören! In der Spätmitte des Lebens ist er, welcher das Leben nicht mehr liebt, denn es ist so kummervoll, dass er all seine Trauer forttrinken muss. Seine Frau hat ihn verlassen und sein Sohn kennt ihn schon lange nicht mehr, hat die Verbindung zum Ursprung abgebrochen. Vergessen ist der einsame Mann. Die Traurigkeit der Seele will nicht weichen, sie steht immer wieder auf und befällt sein gebrochenes Herz.

Der Vater des Vergrämten stammte aus der Rhön. „Die Rhön, die ist so schön!“ hatte dieser immer gesagt und erzählt von den hübschen „Mädlich“ dort. Er hatte sich schließlich entschieden für ein bezauberndes Mädchen. Diese gebar den Knaben, nun zu einem kummervollen Mann geworden. Die junge Familie machte gerne Ausflüge. Stets trällerten sie dabei die Ballade von Burlala. Lang, lang ist`s her ...

Heute also begibt sich der König der Dämmerung zu dem Mann mit dem gebrochenen Herzen. Er steigt von den Wacholderhügeln im Grabfeld hinab ins Tal - ganz nah bei unserem Städtchen, sein schwarzer Mantel weit und aufgebläht, denn der Wind stürmt. Er flüstert: „Das Dämmerlicht ist hier, so komm du jetzt mit mir!“ Und dann singt er das Lied, das dem traurigen Mann aus der Kindheit verblieben ist. Er singt es im Duett mit ihm, denn der Mann hat eine kräftige Stimme: „Als Burlala geboren war, da war es noch so klein. Seine Mutter nimmt es uff den Arm und leecht es in die Wiech` so warm.“ Auf der Veranda stehend tragen sie es vor, draußen im Tal, man hört es bis ins Städtchen. Alle sollen wissen, dass der Mann mit dem gebrochenen Herzen bereit ist zu gehen. Und die Leute lauschen dem wundersamen Duett. Der Dämmerkönig nimmt den traurigen Mann bei der Hand. Dieser lächelt, zum ersten Mal seit vielen Jahren vielleicht, denn das Singen hat ihm immer Freude bereitet. Und schon sind die beiden verschwunden.

 

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Morgen dann sei auch du bereit für dein letztes Lied und die uralten Worte des Dämmerkönigs, unzählige Male geflüstert. Welches Lied wirst du singen in der Dämmerung deines Lebens? Ist`s im Sommer und tritt der Todeskönig zu dir, wird es unsere Hymne sein? Du kennst das Lied aus der Schulzeit! Wirst du singen: „Ich will zur schönen Sommerszeit ins Land der Franken fahren, valeri, valera, valeri, valera!“ Ins Land der Franken fahren, dort oben im Himmel? Der König der Dämmerung wird dich bei der Hand nehmen und führen in die jenseitige Welt. Du  wirst lächeln, das schönste Lächeln deines Lebens wirst du im Angesicht tragen. Und auch der König der Dämmerung wird lächeln, denn er weiß: "Der Schutzherr der Winzer, Kilian", beschert im Frankenhimmel "etwas Feines". Einem edlen Tropfen war der Dämmerkönig noch nie abgeneigt ...

 

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Wann wird der König der Dämmerung aus dem Dunkel hervortreten, aus dem Dunkel der Wacholderhügel? Wann wird er die Berge hinab in unseren kleinen Ort steigen und alle der Reihe nach besuchen, die in der Welt zwischen hüben und drüben sind?

Einem jeden von uns wird er die knochige Hand auf die Stirn legen und Worte murmeln wie: „Es kommt die Dämmerung, du bist nicht ewig jung!“ und „Der Dämmerkönig, er, er holet dich bald sehr!“ und „Das Dämmerlicht ist hier, so komm du jetzt mit mir!“ Uralte Worte sind es, bereits aber- und abertausend Male gesprochen.

Und dann brummelt, singt, flüstert er zusammen mit dir: „Kleiner Bub“ oder „Es führt über den Main“ oder „Burlala“ oder „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!“ Er kennt sie alle, die alten Weisen aus deiner Kindheit!

Der König der Dämmerung wartet auf dich an der Schwelle des Lebens. Und er wartet auf das Lied deiner Kindheit, denn irgendwann werden Kindheit und Sterbenszeit zusammenfließen. Und wenn der Dämmerkönig die altvertrauten Worte mit dir singt, dann weiß er, du, Mensch, bist bereit, denn du bist wieder eins geworden mit der Melodie deiner Kindheit. Und dann - fasst er dich, - du wirst lächeln, - an der Hand, - in deiner letzten Minute, - er kennt sie genau, - und führt dich - ins Licht!

 

  

 

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Postskriptum:

 

Die Lieder sind mir aus meiner Kindheit vertraut. In der Geschichte wird darauf Bezug genommen, Einzelheiten werden verwoben. „Kleiner Bub“ und „Burlala“ habe ich von meinem Vater gelernt. Die Franken-Hymne „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!“ hat meine Mutter oft mit uns Kindern - in unserem VW-Käfer auf den Fahrten in den Spessart - gesungen. „Es führt über den Main“ habe ich in der dritten  Grundschulklasse von meiner Lieblingslehrerin gelernt.